Wolfgang Rihm gestorben
Nach langer Krankheit starb in der Nacht zum 27. Juli der Karlsruher Komponist Wolfgang Rihm in Ettlingen, wie verschiedene Medien heute berichten. Er wurde 72 Jahre alt. Mit ihm verliert die zeitgenössische Musik einen ihrer prominentesten Vertreter.
Wolfgang Rihm, 1952 in Karlsruhe geboren und bis zuletzt dort wohnhaft, zählte international zu den meistgespielten Komponisten und galt als „Vielschreiber“. Aufmerksamkeit erregte Rihm, der zunächst in Karlsruhe bei Eugen Werner Velte Komposition studierte, bei den Donaueschinger Musiktagen des Jahres 1974 mit „Morphonie - Sektor IV“. Sein Oeuvre umfasst insgesamt mehr als 500 Kompositionen sämtlicher Gattungen, zu seinen bekanntesten Werken zählen die Opern "Jakob Lenz“, „Die Hamletmaschine“ (nach einem Text von Heiner Müller, uraufgeführt 1987 am Mannheimer Nationaltheater) und „Die Eroberung von Mexico“.
Die Musikjournalistin Eleonore Büning beschreibt ihn in ihrer Biografie („Über die Linie“) als einen „Sonderfall ..., weil er innerhalb der relativ kleinen Welt der zeitgenössischen Musik, die sich seit jeher aufteilte in feindliche Lager und einander ablösende Schulen, nie zu einer Seilschaft gehörte und auch keine begründet hat … Rihm ist auch insofern ein Sonderfall, als er Bach und Beethoven für Zeitgenossen hält … Er arbeitet, im Wesentlichen, mit den Gestaltungsmitteln, die schon im späten neunzehnten Jahrhundert bereitstanden“.
Rihms erste Kompositionsversuche reichen bis in die 1960er Jahre zurück: An der Klais-Orgel der Karlsruher Kirche St. Stephan improvisierte er; die Orgel mit ihren vielgestaltigen Registern bezeichnete er als "Ermöglichungsinstrument". 2018 hat der Organist Martin Schmeding Rihms Orgelwerke an gleicher Stelle auf CD eingespielt ("Wolfgang Rihm und die Orgel", erschienen bei Cybele Records - mit großem Künstlerinterview) und dort auch aufgeführt.
Im Jahr 1985 übernahm Wolfgang Rihm von Eugen Werner Velte den Lehrstuhl für Komposition an der Hochschule für Musik Karlsruhe, den er mit Markus Hechtle teilte. Zu seinen Schülern gehören unter anderem Jörg Widmann und Rebecca Saunders. Außerdem war Rihm Mitglied vieler internationaler Akademien und Jurys. Darüber hinaus war er Mitherausgeber der Musikzeitschrift Melos und musikalischer Berater der Deutschen Oper Berlin sowie des Zentrums für Kunst und Medien. Die Freie Universität Berlin verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, darunter das Große Bundesverdienstkreuz sowie das Bundesverdienstkreuz mit Stern.
"Freiheit ist Freiheit von Zeitgemäßheit"
In einem Nachruf, den die Karlsruher Musikhochschule jetzt veröffentlicht hat, heißt es: "Wer Wolfgang Rihm persönlich begegnet ist, bewahrt in sich die Erinnerung an seine Präsenz. Seit langer Zeit ist uns bewusst, welch besonderes Geschenk sich mit Wolfgang Rihms Entscheidung verbindet, dem kulturellen Lockruf größerer Städte zu widerstehen und seiner Geburtsstadt sowie seiner Hochschule treu zu bleiben."
In Karlsruhe sei Rihm in seinem Freiheitsstreben bekräftigt worden, das ihn zeitlebens geleitet und von allen Dogmen ferngehalten habe. Rihm wird folgendermaßen zitiert: „Die Gegenstände der Lehre wuchsen aus meinen Fragen. Es gab kein ‚Curriculum‘. Ich bekam Antworten oder eben keine. Was ich aber lernte, war, mir meine Aufgaben selbst zu stellen.“
Die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge mitsamt ihren Leistungspunkten habe Rihm indes als Irrweg begriffen. "Im Vordergrund stand für ihn stets die gemeinsame Teilhabe von Studierenden und Lehrenden an kreativen Wachstumsprozessen. Unvergessen bleibt Wolfgang Rihm als verständnis- und humorvoller, jedoch auch unerbittlicher Künstler, Kollege und Pädagoge, der sich stets dafür aussprach, bequeme musikalische Lösungen und ausgeschrittene Gedankenwege zu meiden. Schon deshalb zielte er darauf ab, alle Studierenden in ihrer Individualität zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, ihr Talent in bestmöglicher Weise zu entfalten."
In seinen Worten hieß das: „Freiheit ist immer auch Freiheit von Zeitgemäßheit“. Das habe in gleicher Weise für sein eigenes Schaffen gegolten und für den Widerstand gegenüber Versuchen, ihn zu imitieren, heißt es im Nachruf weiter. "Wolfgang Rihms Bezugspunkte in Musik, Literatur, Theater, Film und Bildenden Künsten, aber auch in Philosophie und Theoriebausteinen verschiedener akademischer Disziplinen waren vielfältiger, als seine veröffentlichten Reden und Aufsätze es kundtun, und im Gespräch begeisterte er sich auch für das Eingängige, so lange es ihn nur zu berühren und anzuregen verstand."
Die Hochschule verwies dabei auch auf sein kulturpolitisches Engagement. Man werde Wolfgang Rihm "dankbar bleiben für all das, was er in Kunstpraxis und Lehre auf den Weg gebracht hat, für sein langjähriges Wirken im Hochschulrat und sein eindrückliches Engagement im Dialog mit der Gesellschaft und ihren kulturellen Institutionen."
(Update vom 28.07.)
Spätestens seit den Europäischen Kulturtagen 2012 – zu Ehren des 60. Geburtstag des Komponisten – war Wolfgang Rihm im Karlsruher Kulturleben und in der Region immer wieder präsent; unter anderem beschäftigte sich auch die „Ettlinger Schubertiade“ mit seinen Werken und zeigte ihn als Liedkomponisten, etwa mit der Einspielung der „Goethe-Lieder“ und der CD „Dort wie hier“ - mit Vertonungen von Rückert, Rilke, Heinrich Heine. Die Interpreten sind Hans Christoph Begemann (Bariton) und Thomas Seyboldt (Klavier).
Aus den Europäischen Kulturtagen 2012 ging auch das Karlsruher Festival „ZeitGenuss“ hervor, das Rihm 2020 selbst kuratierte. Der Bachchor führte an der Evangelischen Stadtkirche vor zwei Jahren Rihms „Requiem-Strophen“ auf. Letztmals trat der Komponist im Rahmen eines Festivals aus Anlass seines 70. Geburtstags in Karlsruhe öffentlich in Erscheinung; vor kurzem erhielt er die Ehrenmedaille der Stadt Karlsruhe.