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Herbstfestspiele Baden-Baden: "Cavalleria rusticana", wie man sie noch nie gehört hat

| Christine Gehringer | PAMINA kurz notiert

Wenn am kommenden Freitag in Baden-Baden ab 20 Uhr die Herbstfestspiele „La Grande Gare“ beginnen, dann erklingt ein Opern-Einakter in einer Art und Weise, wie man ihn noch nie gehört hat: Pietro Mascagnis „Cavelleria rusticana“ enthält in der Urfassung zusätzliche Szenen, die jedoch gestrichen wurden – und zwar schon zur Uraufführung. Traditionell wird das sizilianische Drama (nach einer Novelle von Giovannni Verga) im Verbund mit Leoncavallos „Bajazzo“ auf die Bühne gebracht, dies allerdings sehr selten an hiesigen Opernhäusern.
Thomas Hengelbrock, Experte für historische Aufführungspraxis, musiziert mit seinen Balthasar-Neumann-Ensembles die Oper zwar „nur“ konzertant – doch möglicherweise sind große Bilder auch gar nicht nötig, denn der Erkenntnisgewinn und die ungewohnten Klangfarben dürften nachdrücklich genug sein. Während der gestrigen Video-Presskonferenz versprach Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa gar eine „groß dimensionierte“ Aufführung, eine „ikonische Interpretation“.
Schon während seiner Tätigkeit an der Wiener Volksoper vor zwanzig Jahren hat Thomas Hengelbrock seine Liebe zu dieser Oper entdeckt: Pietro Mascagni habe ein ein „unglaubliches Gespür“, eine „unverstellte, natürliche“ Art zu komponieren“ - so, wie es der ungeschönten Lebenswirklichkeit entsprach, die sich in der Kunst und in der Literatur gegen Ende des 19. Jahrhunderts im „Naturalismus“, daneben in der italienischen Oper im so genannten „Verismo“ niederschlug.
Ein sorgfältiges Quellenstudium brachte neue Erkenntnisse; dazu trug vor allem auch ein handschriftlicher Klavierauszug des Uraufführungsdirigenten bei. Vor der Uraufführung und auch danach sei, so Hengelbrock, „einfach gestrichen“ worden – zum einen, weil die Oper für einen Wettbewerb (des Musikverlags Sonzogno) komponiert wurde und man Pietro Mascagni um Kürzung gebeten hatte. Zum anderen aber auch, weil seinerzeit der Chor zu schlecht war für die anspruchsvolle Partie – was den Komponisten bei der Uraufführung zur Verzweiflung brachte.
So verwundert es nicht, dass Thomas Hengelbrock, dessen Balthasar-Neumann-Chor international zu den führenden Vokalensembles zählt, den Wunsch hegte, das Werk „mit all den herrlichen Chören“ einmal so aufzuführen wie vom Komponisten beabsichtigt – zumal dies, so Hengelbrock, ebenso Einfluss habe auf die „Statik des Stückes“.
Doch auch sonst gibt es Änderungen: Die Partie der Santuzza, Protagonistin und tragische Frauenfigur des Dramas, wird hier mit einem eher leichten, lyrischen Sopran (Carolina López Moreno) besetzt – auch dies entspricht der Uraufführung. Denn die Partie lag ursprünglich höher, als dies heutige Produktionen (oft hört man hier einen Mezzosopran) vermuten lassen.
Die Figuren der Oper seien jedoch junge Menschen, so Hengelbrock, und deshalb sei es „schön, wenn dies ein hoher Sopran singen kann“ - passagenweise auch ohne Vibrato.
Damit solche Feinheiten möglich sind, bedarf es jedoch einer entsprechenden Orchester-Besetzung und einer Klangbalance, welche die Sänger nicht an ihre Grenzen zwingt. Dafür sorgen die Blechbläser; italienische Hörner, die „passgenau“ ausgesucht wurden – so, wie es der damaligen Aufführungspraxis entspricht.
Solche exklusiven Projekte sind jedoch nur mit entsprechender Förderung möglich; vor kurzem wurde beispielsweise bekannt, dass die Stiftung Baden-Württemberg die Herbstfestspiele in den kommenden fünf Jahren mit insgesamt 2,5 Millionen Euro unterstützt. „Wir sind freie Ensembles, wir brauchen das Geld wirklich“, sagt Hengelbrock mit Nachdruck. Auch während der Pandemie hatten Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble durchgehend gearbeitet – mit einem aufwändigen Corona-Testverfahren.
Die weiteren Aufführungen des ersten Festival-Wochenendes lenken den Blick dann nach Frankreich (wo Thomas Hengelbrock mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt hat); auch der Titel der Festspiele, „La Grande Gare“ - in Anlehnung an den Alten Bahnhof Baden-Baden als eine Art Drehkreuz im Europa des 19. Jahrhunderts - deutet dies an: Am Samstag, den 12. November steht ab 18 Uhr der große französische Komponist Hector Berlioz (Dirigent: Antonello Manacorda) auf dem Programm. Berlioz dirigierte während des Sommers einst auch in Baden-Baden. Davor, um 14 Uhr, kann man bei freiem Eintritt das Abschlusskonzert des deutsch-französischen Singfestes „Vive le Gesang“ erleben.